Freizeit und Wohnen, menschliche Lebensform. Ihre Bedeutung für die Situation von Behinderten Ich bin eingeladen worden, auf das Thema Behinderung, Freizeit und Wohnen einen kulturanthroplogischen und philosophischen Blick zu werfen. Die moderne Kulturanthropologie versteht Kultur als Lebensform. Damit ist gesagt, dass Kultur nicht, wie man lange meinte, etwas ist, was allein durch bestimmte geistige, intellektuelle Leistung entsteht. Der Begriff „Lebensform“ wurde vom Philosophen Ludwig Wittgenstein in die Philosophie eingebracht. Die kulturwissenschaftliche Anwendung dieses Begriffes erfordert, dass man ihm einen konkret fassbaren Inhalt gibt, indem man hinzufügt und differenziert, was die Grundelemente jeder menschlicher Lebensform sind. Es sind: 1) die symbolische Dimension, 2) soziale Dimension und 3) das Individuum. Alles menschliche Tun weist diese drei Dimensionen auf. Der Angelpunkt aller Formen von Leben ist das tätige, das handelnde Individuum. Wenn es handelt, bewegt es sich im sozialen Raum, und die sozialen Beziehungen, die es hat oder eingeht, sind vermittelt durch Sprache und Symbol. Sprache und Symbol sind der Stoff, aus dem Kulturen entstehen. Die symbolische Ordnung ist ein Thema der Kulturtheorie allgemein, der soziale Raum eines der Soziologie, und die theoretische Deutung des Individuums ist Sache der Anthropologie und er Psychologie. Diese Dinge zusammen zu denken, ist eine Sache der Philosophie. Das Ganze der Kultur als Lebensform umfasst alle Lebensbereiche, das materielle leibhaftige Leben, das Leben von den ersten Lebensstunden an bis ins hohe Alter, das Arbeitsleben wie auch das private Leben. Freizeit und Wohnen sind Bereiche, die in unserer Kultur, das heißt als von den Anforderungen der Arbeit bestimmt werden. Aber wir leben nicht, um zu arbeiten, sondern wir arbeiten, um zu leben. Was ist der Ort von Behinderten in diesem Zusammenhang? Wenn man in die neuere Geschichte schaut, auf das 19. Jahrhundert, auf die Politik des Umgangs mit Behinderung dieser Zeit wird klar, dass Behinderten in der Gesellschaft an ihren Leistungen im Berufsleben gemessen wurden. Die unselige Rede vom lebensunwerten Leben gründete auf der Idee, dass Leistung und Tüchtigkeit im Arbeitsleben allein ein Lebensrecht begründet. Das war die Sichtweise der Eugenik mit ihren entsetzlichen Auswüchsen in der Zeit des Nationalsozialismus. Wir haben heute diese Vorstellungen überwunden. Wir, und haben ein anderes Verständnis von Behinderung. Ich habe über die Frage, wie man Behinderung philosophisch denken soll, viel nachgedacht und auch ein Buch dazu geschrieben. Hier nur einige Überlegungen dazu. Ein erstes Ergebnis solchen Nachdenkens: Wir müssen althergebrachte philosophische Vorstellungen davon, was der Mensch ist, über Bord zu werfen- vor allem die Vorstellung, dass der Mensch in erster Linie ein Vernunftwesen ist. Diese Vorstellung hatte fatale Wirkungen, nicht nur für die Menschen, denen diese Fähigkeit augenscheinlich fehlt, etwa Menschen mit mentalen Beeinträchtigungen. Diese Vorstellung ist schlicht und einfach falsch und zeichnet ein fragwürdiges Bild vom Menschen. Denn wir Menschen sind in erster Linie lebendige Wesen, mit bestimmten Bedürfnissen und einer ganzen Menge an Fähigkeiten, die er seinem Leibsein verdankt. Behinderung, so sehe ich es, ist nichts anderes als eine spezielle Form und Erfahrung des Lebendigseins – eines Lebens mit einem Körper von besonderer Art. Lebendigsein ist, allgemein gesagt, für nicht behinderte und behinderte Menschen in gleicher Weise leibhaftes Leben mit einem Körper, durch den wir einerseits, wie wir wissen, in die soziale und kulturelle Ordnung, andererseits in die Ordnung und Gesetzmäßigkeiten der Materie eingebunden sind. Das sind die grundlegenden Tatsachen, von denen eine Theorie der Behinderung ausgehen wird. Denn Behinderung gibt es, weil wir unweigerlich an einen Körper in seiner Materialität gebunden sind. Wären wir reine Geistwesen, gäbe es das Problem von Behinderung nicht. Zum Lebendigsein gehört aber viel mehr als bloß an die Materialität des Körpers gebunden zu sein. Es ist unsere Weise, zu existieren, und sie manifestiert sich in einer Reihe von Merkmalen und Fähigkeiten: Einige von ihnen sind folgende : 1) Lebendigsein heißt zu allererst in Bewegung sein, körperlich und geistig. Der Biomediziner Viktor Von Weizsäcker nennt als das erste Merkmale des Lebendigen „spontane Selbstbewegung“. Kurz gesagt: Leben ist Bewegung. 2) Die Fähigkeit, zur Welt in Beziehung zu sein, - Sensitivität, Die Fähigkeit zu spüren, und Orientierungsfähigkeit, die Fähigkeit zu Wahrnehmung und, bei höheren Formen des Lebendigen wie beim Menschen, Erkenntnisfähigkeit. Leben bedeutet, in einem kontinuierlichen Austausch mit der Umwelt zu sein, sowohl mit der natürlichen als auch mit der sozialen Umwelt. 3) Die Verfassung des Lebendigen als Körper-Geist- Einheit ist so komplex, dass es jedenfalls bis heute nicht möglich ist, sie zu berechnen und zu kontrollieren. Aus dieser Komplexität ergeben sich seine Unverfügbarkeit und Offenheit, und auch seine unvorhersehbare Bedingtheit, seine Kontingenz. gründet in diesem Umstand. Seine Unverfügbarkeit und Offenheit ist die Voraussetzung für eine ganz wesentlichste Eigenheit des Lebendigen – seine Freiheit, seine Spontaneität Wir sind nicht Automaten, sondern können nach eigenen Vorstellungen und Wünschen handeln, ohne freilich das Leben als Ganzes zu beherrschen. 4) Das Lebendige ist kreativ, es kann Neues und Ungewöhnliches hervorbringen, auch Neues, das den Gegebenheiten der sozialen Umgebung widerspricht – Ich nenne diese Fähigkeiten des Lebendigen deshalb Monstrosität und Subversivität. Das sind die positiven Merkmale des Lebendigseins, aber es hat auch eine Kehrseite: 5) Aufgrund seiner schicksalhaften Gebundenheit an seinen Körper gehören Verletzbarkeit, auch Störbarkeit und Sterblichkeit, und das heißt Endlichkeit, zu den Wesentlichen Merkmalen des Lebendigen. Behinderung ist eine solche Störung der normalen Funktionen und Merkmale des lebendigen Körpers. Wie auch immer: Behinderung ist nichts anderes als eine besondere Weise des Lebendigseins. Behinderung ist eine besondere Weise, zur Umwelt in Beziehung sein, erzeigt eine andere Weise, die Welt und sich selbst wahrzunehmen. Der Behinderte ist im Rahmen seiner Möglichkeiten spontan, kreativ und aktiv, allerdings unter erschwerten Bedingungen. Es bedarf einiger Mühe, eine solche Situation, Behinderungen und Beschränkungen, zu bewältigen. Das ist uns aus eigener Erfahrung klar – Umgang mit Behinderung ist der Versuch, die Kontingenzen des eigenen Körperseins zu bewältigen. Für diese Bewältigung sind Behinderte auf eine unterstützende Umgebung angewiesen. Und Behinderte haben darauf einen moralischen Anspruch, und ein Recht auf Unterstützung. Denn die Situation der Behinderung ist eine Situation, von der jeder Mensch, auch der Nichtbehinderte, jederzeit betroffen sein kann. Aufgrund seiner Gebundenheit an die Materialität seins Körpers ist jedes menschliche Leben störbar, verletzbar, sterblich. Behinderung beruht auf einer solchen Störung. Aber das Leben des Behinderten ist zu allererst eine Weise des Lebendigseins, und seine Störbarkeit und Verletzbarkeit ist etwas, was alle Menschen mit den Behinderten teilen. Behinderte haben auf ihre Weise teil an den Potentialen und Fähigkeiten, die menschliches Leben ausmachen, wenn auch auf andere Weise. Wie kann man diesen Potentialen die Chance geben, sich zu verwirklichen? Das ist die Kernfrage der Lebensgestaltung für Behinderte. • Die erste Aufgabe: Barrieren zu beseitigen, die den Bewegungsraum des Menschen mit einem Potential, das anders ist als das des durchschnittlichen Menschen • Das ist eine politische Aufgabe, die mittlerweile Schritt für Schritt angegangen wird. • Was kann getan werden, um die Potentiale des Behinderten freizusetzen, zu befördern. 1) Die wichtigste Aufgabe: Freiheiten einzuräumen – Raum geben! 2) Hilfe und Assistenz zu geben 3) Das Potential an Kreativität fördern, Raum für eigene Gestaltungsmöglichen 4) Die Anerkennung des Andersseins 5) Das Fördern und das Zulassen von Eigenaktivität 6) Ein Modell: die Kunst: Mein Thema: Gehen. Gehen, eine Kunst –Leben, eine Kunst“ “Dancability“ Wohnen und Freizeit bieten viele Chancen selbstbestimmter Lebensgestaltung Wohnen, was heißt das? Die Wohnung, die Behausung ist der Ort, an dem man sich aufhält, jedenfalls in die Ruhephasen des Alltags. Die Wohnung bietet Raum für Leben und Bewegung außerhalb der Räume von Schule und Arbeit, ein Raum, in dem man ganz selbst sein kann, sich bewegen kann. Und Bewegung ist Leben, alles Leben ist Bewegung. Leben ist immer leibhaftiges Leben mit einem Körper. Durch das leibhafte Existieren verbinden sich die Dimensionen von Raum und Zeit. Deshalb bestimmt der Raum unsere Möglichkeiten, uns zu verwirklichen. Es ist entscheidende Frage des Lebens, wie man Raum aneignen kann, wie wir ihn bewohnen. Die uns umgebende Kultur gibt objektiv Formen von Räumlichkeit vor und setzt unserer Aneignung von Raum, unserer Bewegung Grenzen. Das gilt für alle Menschen, aber die körperlichen Beeinträchtigungen, mit denen Behinderte leben müssen, setzen ihnen zusätzlich Grenzen, und ihre Erfindungsgabe und ihre Entschlossenheit findet Wege, mit diesen Grenzen zurechtzukommen. Weit gravierender sind allerdings die Grenzen, die dem Behinderten von der Kultur und der Gesellschaft gesetzt werden, durch Barrieren, durch die Verweigerung der gleichberechtigten Partizipation im gesellschaftlichen Leben. Deshalb ist es eine der vordringlichsten Aufgaben, die Barrieren, die Behinderte daran hindern, sich den Raum anzueignen, den sie brauchen, um ihr eigenes Leben zu leben, zu beseitigen. Das gilt in besonderer Weise für den Raum zum Wohnen, der durch kulturelle und gesellschaftliche Vorgaben beschränkt wird, heutzutage vor allem durch wirtschaftliche Verhältnisse. Raum kostet Geld, viel Geld, vor allem, wenn der den Lebensbedürfnissen von Behinderten genügen soll. Wohnen: Ein eigener Raum, zu sein Auch hier geht es zunächst um die Beseitigung von Barrieren. Nicht nur in öffentlichen Räumen, sonders besonders in der nicht durch Arbeit oder Therapie besetzten Zeit, der Freizeit „zuhause“ ist Barrierenfreiheit grundlegend. Die erste Devise lautet deshalb: Daheim statt Heim! Diese Devise zu realisieren, ist vor allem eine Frage der finanziellen Mittel. Der Wohnbau, öffentlich oder privat, muss hier konsequent in die Pflicht genommen werden. Was ist die Rolle und die Bedeutung des Wohnens aus der Sicht der Kulturanthropologie und der Philosophie? Hier ist wieder das Menschenbild von Bedeutung, das die entscheidenden Überlegungen liefert. Der Mensch ist wie gesagt nicht, wie die philosophische Tradition lange sagte, ein reines Vernunft- oder Geistwesen, sondern ist in seiner Existenz an seinen Körper gebunden. Einen Körper zu haben bedeutet notwendigerweise, im Raum zu sein. Dieser Tatbestand spiegelt sich in der Geschichte und der Kultur des Wohnens. Jahrtausendelang verfügte der Mensch als seinen eigenen Raum nicht mehr, als für den Schutz von Kälte und Hitze, den Schutz vor Feinden nötig war. Diese ersten Wohnräume waren Höhlen und aus Pfalzen gebaute Unterschlupfe. Zivilisiertes Bauen gab es erst in den Hochkulturen des vorderasiatischen Raums. Die großen Bauten, die entstanden, waren Kultbauten und Herrschaftshäuser. Die großen Bauwerke der Antike, aber auch noch des Mittelalters waren von dieser Art. Für die Mehrzahl der Menschen blieb der Raum für leben dürftig und bescheiden. Es kann noch nicht von einem Raum zum Wohnen gesprochen werden. Die neuzeitliche Zivilisation, vor allem die industrielle Revolution hat die Situation verändert. Ein neuer Reichtum an materiellen Ressourcen machte auch einen aufendigen Wohnbau möglich, zumindest für die besitzenden Klassen. Das änderte sich erst im Lauf des 20. Jahrhunderts. Die Architektur und die Wohnverhältnisse spiegelten nicht nur die ökonomischen und technischen Errungenschaften der Zeit, sondern auch ihre politischen Verhältnisse. Die Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung lebte in tristen räumlichen Verhältnissen. Raum war nie ohne Beschränkungen verfügbar, und das ist auch heute, in der urbanisierten Welt der Gegenwart. Raum ist zur knappen Ressource geworden, und damit zu einer Ware. Der soziale Raum ist demnach gebunden an verschiedene Formen der Verfügung über Raum, und das ist sehr weitgehend eine Frage der Klassenzugehörigkeit. Die Gesellschaften der Gegenwart bekennen sich zu einem Katalog allgemeiner Grundrechte, zu denen heute auch das Recht auf Wohnraum gehört. Tatsächlich aber folgt Verteilung von Raum im Rahmen einer „meritokratischen“ Gesellschaft nach dem Leistungsprinzip, und daraus ergibt sich, dass Behinderte, die bestimmten Leistungsansprüchen nicht genügen können, auch keinen Anspruch auf Raum erheben können. „Ein Zimmer für sich allein“ – das forderte Virginia Woolf für sich als Frau und als Schriftstellerin, und dieselbe Forderung müssen wir auch für Behinderte erheben. Gerade dann, wenn aufgrund einer körperlichen Beeinträchtigung die Fähigkeit zur Bewegung eingeschränkt ist, ist das Grundrecht auf freie Selbstbewegung gefährdet. Sich frei bewegen zu können, ist ein elementares Grundrecht, und eine elementare Voraussetzung von Freiheit. Freizeit und Freiheit Idealerweise ist die von der Berufsarbeit freie Zeit – die Freizeit – der Ort für die Realisierung von Ansprüchen auf Freiheit. Dieser Gesichtspunkt ist also der Wesentliche für die Gestaltung von Freizeit in der Situation des Behinderten. In erster Linie sollte Freizeit die Möglichkeit der Erholung, der Entspannung bieten, Gelegenheit zu sportliche und auch kreativere Freizeitbeschäftigung, vom Handwerken bis zum Singen und Tanzen Behinderte sollten deshalb nicht allein hinsichtlich ihrer Arbeitsfähigkeit gefördert werden, sondern auch darin, die freie Zeit als Ort des Selbst - Tuns nutzen zu können. Selbst –Tun – können sollte sich aber nicht auf Spiel und Spaß beschränken. Auch Arbeit kann eine des gelungenen Selbst.-Tuns sein. Ohne die Wichtigkeit von Spiel und Sport in Frage zu stellen, möchte ich auf andere, für das Leben von Behinderten ebenso wichtige Dimension von Formen des Selbst-Tuns unterstreichen, für die Freizeit genützt werden könnte und sollte. Auch die Arbeit sollte im idealen Fall Möglichkeiten des Selbst-Tuns bieten. Arbeitsfähigkeit ist ja nicht nur eine materielle Notwendigkeit, sondern wesentlich für das Selbstbild und für die Identität einer Person. Jeder Mensch möchte aktiv sein, etwas tun, um seinen Platz in der Gesellschaft finden. Deshalb haben Behinderte den Anspruch, in ihren Arbeitleistungen anerkannt und am Arbeitsplatz integriert zu werden. Aber Behinderte sind auch Staatsbürger und möchten ihre politische Identität zu finden und zu bewähren, und dazu ist die Teilhabe am Leben der Nachbarschaft, des Viertels, in dem er wohnt und arbeitet, Teilhabe am kommunalen Leben der Stadt, in der er lebt. Bleibt er ausgeschlossen, kann er seine politische Identität nicht entfalten. Dazu sollte er in der Zeit, in der er nicht in seinem Beruf arbeit, Gelegenheit haben. Nur wenn sie ihre Rolle als Bürger spielen können, können sie selbst tätig werden, um für ihre Rechte eintreten. Durch politische Aktion. Die Gewerkschaften, die Parteien sollten daraus Konsequenzen ziehen und Behinderten in gleicher Weise Raum geben für ihre politischen Aktivitäten, und sie sollen dabei Unterstützung erfahren. Diese Ansprüche lassen sich freilich für Menschen mit einer psychischen und mentalen Beeinträchtigung schwer realisieren, und wohl auch das Ziel selbstbestimmten Lebens. Diese Menschen haben trotzdem ein Recht auf Teilhabe, auf Anerkennung und Respekt. Der Raum an Freiheiten, die das menschliche Leben lebenswert machen, sollte ihnen nicht kategorisch verschlossen werden. Diejenigen, die professionell mit der Situation von Behinderten zu tun haben, wissen, dass die Forderung nach Selbstbestimmung sich im Fall schwerer Behinderung nicht leicht realisieren lassen. Die vorangehenden Überlegungen beziehen sich auf die große Gruppe derer, die auf verschieden Weise das Potential zum Selbst-Tun haben. Für ihre Situation sind die Frage nach Freizeit und Wohnen von Bedeutung.