Dr. Johannes Schädler Thesen zum Symposium ‚Lebensarten‘, Graz, 22.10.2009 1. Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen schafft in den Ländern, die sie ratifiziert haben, einen neuen, relativ verbindlichen behindertenpolitischen Rechtsrahmen. International gesehen wird deutlich, dass diese Konvention für die ‚Behindertenbewegung‘ ein beträchtliches Mobilisierungspotential für Reformen in sich trägt (Degener 2009). Auf EU-Ebene wird damit angeknüpft an die Mobilisierungswirkungen des Europäischen Jahres der Menschen mit Behinderungen 2003, mit seinem einprägsamen Motto ‚Nichts über uns ohne uns! 2. In der UN-Konvention kommt der Begriff der ‚Lebensqualität‘ nicht vor. Wenn von ‚Qualität‘ gesprochen wird, z. B. im Kontext von Gesundheitsversorgung (Art. 25) dann im Zusammenhang mit Dienstleistungen und Standards, die dieselben sein sollen wie für andere Menschen. Wie in anderen Abschnitten der Konvention wird im Sinne des Nicht-diskriminierungsprinzips das Recht auf einen gleichberechtigten Zugang zu öffentlichen Leistungen und Institutionen festgelegt. 3. Die Tatsache, dass der Begriff der ‚Lebensqualität‘ in der UN-Konvention nicht enthalten ist, ist kein Zufall, sondern Teil einer veränderten Sichtweise auf die Lebenslagen und Lebenssituationen von Menschen mit Behinderungen. Das Konzept der Lebensqualität wird eher dem institutionenzentrierten Denken zugerechnet, das durch das Paradigma der Bürgerrechte und der Selbstbestimmung überwunden werden soll. Es ist eine Tendenz im neueren sozialpolitischen Diskurs zu beobachten, eher die Voraussetzungen für Teilhabe bzw. für die Vermeidung von Ausgrenzung zu beschreiben als erwünschte positive Zustände (Barthelheimer 2007) 4. Der Ansatz der Lebensqualität geht davon aus, dass ein bestimmtes Maß an Lebensqualität behinderter Menschen durch Einrichtungen der Behindertenhilfe gleichsam produziert werden kann. Weiterhin wird davon ausgegangen, dass dieses Maß an erreichbarer Lebensqualität behinderter Menschen abhängig sei von den materiellen Ressourcen, die die Einrichtung zur Verfügung gestellt bekommt und von der Wirksamkeit, mit der die einrichtungsinternen Prozesse gestaltet werden. Diese Annahmen haben sich als nicht haltbar bzw. in den Konsequenzen zu engführend erwiesen. Lebensqualität ist nur als subjektive Kategorie in der Behindertenhilfe verwendbar, ihre Herstellung letztlich eine Leistung des Individuums. Das Verständnis von Behinderung hat sich weiterentwickelt und zu den neuen Leitbegriffen der Inklusion und Teilhabe geführt. 5. Behinderung entsteht – so heisst es in der Präambel der UN-Konvention –„aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren (…), die sie an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern“. Für den Bereich des Wohnens formuliert die Konvention das Recht behinderter Menschen auf Unabhängige Lebensführung und uneingeschränkte Teilhabe am Leben der Gemeinschaft (vgl. Art. 19). Die Unterzeichnerstaaten verpflichten sich zu gewährleisten, dass die dafür und zur Verhinderung von Isolation und Absonderung notwendige Unterstützung verfügbar ist. 6. Daraus ergibt sich die konzeptionelle Anforderung an die verantwortlichen Akteure eines Gemeinwesens, die Infrastruktur so zu gestalten, dass für alle behinderten Menschen – wie für alle anderen auch - ein privates Wohnen in der eigenen Häuslichkeit mit flexibler und verlässlicher Unterstützung möglich ist. 7. Zwar trifft es für alle europäischen Länder (wenn auch in sehr unterschiedlichem Maße) zu, dass sich das professionelle Hilfesystem für Menschen mit Behinderungen konzeptionell und institutionell immer weiter vom zentralisierten Anstaltsmodell des 19. Jahrhunderts entfernt und sich zunehmend auf die Kommune bezieht. Trotz intensiver Reformdiskussion hat sich der Kern des Regelwerks des traditionellen ‚institutionellen Modells‘ (Wolfensberger) gerade im Bereich des Wohnens aber vielfach als stabil bzw. veränderungsresistent erwiesen. In der Breite wirksam umgesetzt wurden Reformen v.a. in den Ländern, in denen ein starker politischer Wille vorhanden war (UK) oder eine ausgeprägte demokratisch-solidarische Grundhaltung bei starker kommunaler Gestaltungsverantwortung (Skandinavische Länder). Für Deutschland lässt sich von einem „additiven Veränderungsmuster“ (‚von allem mehr‘, vgl. Schädler/Rohrmann 2009) sprechen, wobei stationäre Hilfeformen nahezu ungebrochen dominieren. 8. Reformaktivitäten der Behindertenpolitik müssen an den gegebenen nationalen, regionalen und örtlichen Entwicklungspfaden ansetzen. Vor dem Hintergrund des bürgerrechtlichen Ansatzes der UN-Konvention einerseits und unter Bedingungen hochgradig strukturierter, traditioneller Hilfesysteme sprechen Erfahrungen zunehmend für einen Veränderungsansatz ‚von unten‘, der sich auf die Neugestaltung der Lebensbedingungen für Menschen mit Behinderungen richtet. Hierfür steht das Konzept der ‚örtlichen Teilhabeplanung‘ (Rohrmann/Schädler). 9. Örtliche Teilhabeplanung beschreibt einen planerischen und lernorientierten Prozess, in dem sich unter politischer Federführung der Kommunen die örtlich relevanten Akteure auf den Weg machen, die Zielsetzungen eines ‚inklusiven Gemeinwesens‘ unter den Bedingungen ihrer spezifischen Örtlichkeit zu realisieren. Dabei geht es darum, Wege zu entwickeln, wie im Sinne eines erweiterten Begriffs von Barrierefreiheit öffentliche Infrastruktur im im örtlichen Gemeinwesen (Räume, Umwelt, soziale Institutionen) für alle Menschen zugänglich gemacht werden kann. Dies gilt es zu verbinden mit einer Weiterentwicklung des örtlichen Hilfesystems für behinderte Menschen, in der Weise, dass es in der Lage ist, die individuellen Teilhabechancen zu stärken und die Inklusionspolitik der bzw. in der jeweiligen Kommune zu unterstützen. 10. Eine Orientierung am Lebenslauf ermöglicht es, Barrieren und Probleme der Teilhabe behinderter Menschen im örtlichen Gemeinwesen systematisch zu identifizieren. Dies bildet die Grundlage, um mit geeigneten sozialplanerischen Strategien und Methoden Veränderungsprozesse zu initiieren. Ein solcher Planungsansatz birgt ‚nolens volens‘ Konfliktpotential und muss deswegen als politischer Prozess verstanden werden. 11. Es geht darum, mit der Planungsarbeit für ein Inklusives Gemeinwesens‘ den Bereich der Behindertenhilfe zu verlassen und dazu beizutragen, dass die Rechte auf Teilhabe und Gleichbehandlung behinderter Menschen zu einer Programmatik des öffentlichem Interesses und des Gemeinwohls werden. Am Zentrum für Planung und Evaluation Sozialer Dienste (ZPE) der Universität Siegen (Deutschland) wird seit einigen Jahren zu Konzepten und Möglichkeiten einer örtlichen Teilhabeplanung für Menschen mit Behinderungen geforscht. Informationen hierzu finden sich unter www.teilhabeplanung.uni-siegen.de. Literatur Barthelheimer, Peter (2007): Politik der Teilhabe. Ein soziologischer Beipachzettel. In: Fachforum der Friedrich Ebert Stiftung, Heft 1 / 2007 Berlin Heft SBeadle-Brown, Julie; Kozma, Agnes (2007): Deinstitutionalisation and community living - outcomes and costs: report of a European Study. Volume 3: Country Reports. Canterbury: Tizard Centre, University of Kent Degener, Theresia (2009): Welche legislativen Herausforderungen bestehen in Bezug auf die nationale Implementierung der UN-Behindertenrechtskonvention in Bund und Ländern. In: Behindertenrecht, Jg. 48, H. 2. Deutsche Bundesregierung (2009): Bericht der Bundesregierung über die Lage von Menschen mit Behinderungen für die 16. Legislaturperiode, online verfügbar unter: http://www.bmas.de/coremedia/generator/3524/property=pdf/a125__behindertenbericht.pdf, zuletzt geprüft am 10.08.2009. Rohrmann, Albrecht (2009): Ansätze örtlicher Teilhabeplanung – ein Überblick, In: Si:So (Siegen Sozial, Heft 3/2009) i.E. Schädler, Johannes (2003): Stagnation oder Entwicklung in der Behindertenhilfe. Chancen eines Paradigmenwechsels unter Bedingungen institutioneller Beharrlichkeit. Hamburg Schädler, Johannes / Rohrmann, Albrecht (2009): Zuständigkeitsregelungen und Reformperspektiven für wohnbezogene Hilfen für Menschen mit Behinderungen, in NDV, Heft 6, S. 229 - 236 Schädler, Johannes/Rohrmann, Albrecht (2009): Szenarien der Modernisierung in der Behindertenhilfe, in: Teilhabe, Heft 2/2009 . Schädler, Johannes, Rohrmann, Albrecht, Schür, Stephanie (2008): The Specific Risks of Discrimination Against Persons in Situation of Major Dependence or with Complex Needs. Research Report, Volume 2 Research and Analysis, Inclusion Europe, Brüssel (http://www.uni-siegen.de/zpe/projekte/aktuelle/eucn/cns_volume_2.pdf Vereinte Nationen (2006): Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Zwischen Deutschland, Liechtenstein, Österreich und der Schweiz abgestimmte Übersetzung der Convention on the Rights of Persons with Disabilities von 2006. Online verfügbar unter http://www.bmas.de/coremedia/generator/2888/property=pdf/uebereinkommen__ueber__die__rechte__behinderter__menschen.pdf Wolfensberger, Wolf (1969): The origin and nature of our institutional models, In: Kugel, Robert B. / Wolfensberger, Wolf (Hg.) (1969): Changing patterns in residential services for the mentally retarded; President’s Comittee on mental Retardation, Washington D.C.,. S. 58 – 161